Remigriert euch ins Knie! 💩

Hamburger Kammerkunstverein

Veranstaltungen mit Herz und Hirn.

Liederabend bei der Kempowski Stiftung im Haus Kreienhoop


Haus Kreienhoop, 27404 Nartum


kempowski.de


Liederabend im Haus Kreienhoop, 2009

Antonín Dvořák (1841 – 1904): Zigeunermelodien op. 55
„Mein Lied ertönt“
„Ei wie mein Triangel“
„Rings ist der Wald so stumm und still“
„Als die alte Mutter“
„Rein gestimmt die Saiten!“
„In dem weiten luft’gen Leinenkleide“
„Horstet hoch der Habicht“

Robert Schumann (1810 – 1856): Gesänge der Mignon aus „Wilhelm Meister“ von Johann Wolfgang von Goethe op. 98a (1849)
„Kennst Du das Land“ op. 98a Nr. 1
„Nur wer die Sehnsucht kennt“ op. 98a Nr. 3
„Heiss’ mich nicht reden“ op. 98a Nr. 5
„So lasst mich scheinen“ op. 98a Nr. 9

Pause

Pauline Viardot-Garcia (1821 – 1910): Vier Lieder
„Moriró“ (Toskanische Volksdichtung)
„Hai Luli!“ (de Maistre)
„Cancion de la Infanta“ (Dichter unbekannt)
„Les Filles des Cadix“ (de Musset)

Hugo Wolf (1860 – 1903): Lieder der Mignon
“Mignon I“
„Mignon II“
„Mignon III”
“Mignon IV“


Dass es sich bei Dvořáks „Zigeunermelodien“ um tschechische Volksklänge handelt, wird dem aufmerksamen Zuhörer nicht entgehen - stellen die tschechisch folkloristischen Elemente die ungarisch-zigeunerische Melodik doch unweigerlich in den Schatten.
Antonín Dvořák komponierte diesen Liederzyklus im Jahr 1880 nach deutschen Texten von Adolf Heyduk, für den Wiener Sänger Gustav Walter. Einen Höhepunkt bildet das vierte Lied, dessen kantables Thema als Inbegriff tschechischer Melodik weltweite Anerkennung erlangt hat. In seinem Liedschaffen gelingt Dvořák die wunderbare Synthese von heimischer Volksmusik mit der Klangsprache der Romantik. Der Komponist zählt damit, neben seinem musikalischen Landsmann Bedrich Smetana, zu den Gründern der tschechischen Nationalmusik.
Hier tritt ein patriotischer, selbstbewusster Komponist an, der von Heimat, geglückter Liebe und unendlicher Freiheit berichtet. Hier schöpft einer aus dem Vollen, volkstümliche Elemente und Fabeln werden stolz entfaltet. Dem Zuhörer bleibt nichts anderes, als sich in diese Welt hineinziehen zu lassen und vor so viel glücklichem Vertrauen in das eigene Vaterland staunend den Hut zu ziehen.

Schumanns Vertonungen der Gesänge der Mignon stehen in einer Reihe mit denen von Beethoven und Wolf, die sich ebenfalls von der Seelenqual Mignons zu einigen ihrer schönsten Lieder inspirieren ließen. Goethes Mignon ist ein italienisches Waisenkind, das sich hoffnungslos in „Wilhelm Meister“ verliebt und darüber vor Kummer dahinsiecht und stirbt.
Vordergründig singt hier Mignon, doch ist es nicht besonders gewagt zu behaupten, dass man hier auch Schumanns Seelenqualen klingen hört. Geldsorgen plagten ihn, er fühlte sich als Ehemann der weltberühmten Pianistin Clara Schumann gesellschaftlich zurückgesetzt und litt an manisch-depressiven Schüben, wohl auch verstärkt durch syphilitische Symptome.
Die Sehnsucht nach dem „Land, wo die Zitronen blüh'n“, dem erträumten Utopia, in dem alle Qual schweigt, ist Quell doppelter Emotion: Sie spendet Trost und spendet Qual, denn im Gegensatz zu jenem Land steht die diesseitige Realität, die umso bitterer das Bewusstsein martert, je leuchtender das Land jenseits aufscheint.

Weniger deutsch und zerrissen geht es weiter mit vier Liedern von Pauline Viardot-García. Es sind wahre Kabinettstückchen, in denen sich mit wenigen Pinselstrichen das Lokalkolorit von gleich drei Nationen enthüllt: Italien, Spanien, und Frankreich.
Im ersten Lied will eine äußerst temperamentvolle Italienerin vor Liebeskummer sterben, im zweiten stellt sich ein französisches Landmädchen vor, wie es wäre, von ihrem Geliebten verlassen zu werden. Das dritte Lied handelt vom Tod des portugiesischen Thronfolgers, der vom Pferd fällt und stirbt, und damit nicht nur die spanische Prinzessin Isabell zur Witwe macht, sondern auch die Hoffnung auf Vereinigung der Königreiche Spanien und Portugal zerstört, und im vierten geht es schließlich um die kokette Fröhlichkeit der Mädchen im spanischen Cadix.
Alle vier Lieder sind voll großer Emotion, und man sieht die berühmte Sängerin Viardot beinahe vor sich, wie sie während einer Soirée mit einem halb angedeuteten ironischen Lächeln ihre Verehrer zur Weißglut treibt.

Auch Hugo Wolf beschäftigt sich mit der Komposition von Goethe-Liedern. Wie Schumann beschließt Hugo Wolf, sich den ungewohnten Seiten des Dichters zu widmen. Dazu zählen u.a. die Gesänge aus ‚Wilhelm Meister‘ mit den vier Liedern der Mignon.
Wolfs Lieder erscheinen frisch, unkonventionell und von einer eigentümlichen Harmonik durchdrungen. Eine bis dato ungekannte Freiheit im Umgang mit Melodie, Sprache und Textverteilung ist ein typisches Merkmal des Komponisten. Seine neuartige Methode der Liedkomposition scheint keiner erkennbaren Tradition verbunden. Typisch sind die fast rezitativischen Momente, die an Opern Richard Wagners erinnern.
So kann es nicht überraschen, dass Johannes Brahms, der große bewahrende Altmeister, bei der Lektüre der Lieder von Wolf keineswegs beeindruckt war. Wolf wiederum war über Brahms fehlende Wertschätzung seines Œuvre so beleidigt, dass er fortan als Musikkritiker kein gutes Haar an Brahms ließ. Wolf’s Kompositionsstil war prägend für eine ganze Epoche im Liedgesang, die Spätromantik, die sicher als eigene Epoche und nicht als aussterbender Appendix der Romantik verstanden werden muss.


PRESSE

Kniefall vor hoher Liedkunst

Nartum (ti). Das einzigartige Ambiente des Hauses Kreienhoop nutzten am Freitag Altistin Jale Papila und Pianist Franck-Thomas Link zu einem betörenden Liederabend. Die Musiker des Hamburger Kammerkunstvereins präsentierten unter anderem verschiedene Versionen der Mignon-Lieder.

„Ich habe selten ein Haus gesehen, das soviel Geist und Herz in jedem Winkel hat. Es ist etwas ganz Besonderes“, sagte Altistin Jale Papila. „Es ist alles so persönlich hier“, sagte Pianist Franck-Thomas Link, der bereits zum vierten Mal im Haus Kreienhoop spielte. „Ich fühle mich hier wie zuhause.“ Den Zuhörern, die von Raum zu Raum zu flanierten, sich in den unzähligen Details aus dem Leben des Dichters verloren oder von den kleinen Trauben aßen, deren Reben an der Decke wuchsen, schien es ebenso zu gehen. Gastgeberin Hildegard Kempowski dankte dafür ihrem Mann, dem 2007 verstorbenen Dichter Walter Kempowski: „Dass wir in solch einem Ambiente Musik genießen dürfen, das hat er ermöglicht.“

Hochklassig nahm sich das musikalische Programm des Abends aus. „Es ist eine Pracht“, pries Hildegard Kempowski bereits im Voraus die Stimme Jale Papilas - und das strahlend blaue Kleid der Altistin. Das Duo hatte bereits im November letzten Jahres im Haus Kreienhoop mit einem Liederabend Eindruck gemacht. Hauptfigur dieses Abends sollte Mignon werden, die tragische Mädchengestalt aus Goethes Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Ihre Lieder hatten gleich mehrere Komponisten zu Vertonungen inspiriert.

Zunächst jedoch die Zigeunermelodien Antonin Dvoraks, deren Stimmungen zwischen dem schwermütigen „Als die alte Mutter“ und dem schwungvollen „Rein gestimmt die Seiten“ wechselten. Nach ausgiebigem Applaus folgten die „Gesänge der Mignon“ in der Vertonung Robert Schumanns, unter denen vor allem das tieftraurige „Heiss' mich nicht reden“ das Publikum rührte. Deutlich lebhafter ging es nach einer kurzen Pause weiter.

Vier Lieder der Komponistin Pauline Viardot-Garcia sang Papila in Italienisch, Spanisch und Französisch. Im letzten Lied machten „Les Filles des Cadix“ – die Töchter der Stadt Cadiz – von sich reden. Das vielleicht lebhafteste Lied des Abends riss erneut zu Applaus und Bravo-Rufen hin, auch wenn kaum jemand der Lyrik folgen konnte. „Beim nächsten Mal brauchen wir die Texte“, räumte Hildegard Kempowski ein.

Schließlich gab es die „Lieder der Mignon“ des Komponisten Hugo Wolf. Sie klangen strenger, erwachsener als die Schumanns. Hier verwickelte eine deutlich reifere Person die Zuhörer in eine intensive Ansprache. Dem erneuten Applaus folgten als Zugabe zwei Lieder Johannes Brahms'. „Brahms ist doch Norddeutscher, der gehört einfach dazu“, sagte Papila im Anschluss. Auch für Link war Brahms Herzensangelegenheit: „Der muss dabei sein.“ Höchstes Lob zollte im Anschluss Gastgeberin Hildegard Kempowski: „Vor den Texten, vor den Lieder und vor dieser Musik müsste man auf die Knie fallen.“ Die Chancen, dass das Duo auch in der nächsten Saison im Haus Kreienhoop zu Gast ist, stehen offenbar recht gut.

Zevener Zeitung, 8. September 2009